Angst beim Reiten entwickelt sich schnell: Einmal doof gestürzt, ein unachtsamer Moment und plötzlich reitet sie mit: Die Angst und das Gefühl, dem Pferd nicht mehr gewachsen zu sein. Aber das muss nicht so bleiben. Wie stellen eher ungewöhnliche Wege zu mehr Vertrauen und Mut mit Pferden vor: Die Ausbilderinnen Sibylle Wiemer und Kolly Holland-Nell nehmen ängstlichen Reitschülern mit Muskelarbeit, Traumreisen & Geduld die Angst vor dem Reiten.
Wieso gibt es immer mehr Angstreiter?
Im Freizeitreiterbereich „wird die Angst immer salonfähiger und auch das Sprechen über die Angst“, sagt Sibylle Wiemer. Viele Reiter gehen offen damit um, was auch damit zusammenhängt, dass es immer mehr Reiter mit zu viel Respekt vor dem Reiten gibt. „Das liegt meiner Meinung nach daran, dass die Grundausbildung zu kurz und oberflächlich abläuft“, sagt die erfahrene Reitlehrerin und Diplom-Pädagogin. Ein typischer reiterlicher Lebenslauf, der zur Angst führe, sei ein solcher: Späteinsteigerin reitet nach wenigen Longenstunden in der Abteilung. Sie fühlt sich dort nicht wohl. Daher kauft sie früh ein eigenes Pferd – im Glauben, dass dies bestimmt schöner ist. Doch nach kurzer Zeit ist die frisch gebackene Pferdebesitzerin absolut überfordert. Dadurch bringt sie sich in heikle Situationen.
Woher kommt die Angst vor dem Reiten?
Das vielleicht ehemals brave Pferd wird auch nachfragend, denn es soll aufgrund mangelnder Führung durch den Menschen immer mehr selbst entscheiden. Es kommt zu Situationen mit Kontrollverlust. Folge: Der Mensch wird immer vorsichtiger und bewegt das Pferd nur noch in geringem Maße. „Ich habe immer wieder Pferdebesitzer in meinen Kursen, die sich gar nicht mehr trauen, schneller als Schritt zu reiten“, sagt Sibylle Wiemer.
Angst vor dem Reiten nach Unfällen
Natürlich gibt es auch die Angst, die durch Traumata entsteht. Unfallgefahren werden unterschätzt und es kommt zu Stürzen. Typisch sind Fälle, „in denen ungeeignete Aufstiegshilfen genutzt werden und das Pferd tritt zum Beispiel in den Cola-Kasten, bleibt hängen, erschrickt und wirft den Menschen ab.“ Oder der Reitlehrer selbst bringt den unerfahrenen Schüler in Gefahr. „Ich höre immer wieder, dass Schüler auf zu schwierige Pferde gesetzt werden und das dann schief geht“, sagt Sibylle Wiemer.
Drei Entscheidungsmöglichkeiten mit der Angst umzugehen
Wer selbst Angstreiter ist, hat drei Möglichkeiten, sagt Sibylle Wiemer: „Love it, change it or leave it!“ Love it bedeutet für die Angst: Sie kann eine bequeme Ausrede sein. Wer die Angst vorschieben kann, muss vielleicht nicht zugeben, dass er nicht in der Lage ist, ein Pferd im Galopp zu kontrollieren. Vielleicht ist es für manche einfacher, zu sagen: „Ich habe Angst, ich reite nicht schneller“, als sich mit mehr Reittechnik und viel Unterricht abzumühen, besser zu werden. Das wäre ein Beispiel für die Entscheidung „Love it“. Anspruchsvoller wäre „Change it“, „denn das bedeutet, ich möchte die Angst verändern, das ist ein großer Schritt!“, sagt Sibylle Wiemer. „Leave it“ würde bedeuten, dem Reiten komplett den Rücken zu kehren.
Was hilft gegen die Angst beim Reiten?
Jetzt haben wir geklärt woher die Angst beim Reiten (oder sogar vor dem Pferd) kommen kann und warum es immer mehr Angstreiter gibt: Eine zu kurze reiterliche Ausbildung, ein zu früh gekauftes eigenes Pferd und daher durch mangelnde Erfahrung und Fehleinschätzungen dem Pferd keine Sicherheit und Führung mehr geben können, wodurch es zu mehr Schrecksituationen kommt. Doch wie geht man nun dagegen vor und gewinnt das Vertrauen in das Pferd- und vorallem in sich selbst- zurück? Hier nun drei eher ungewöhnliche Ansätze gegen die Angst:
1. Mit dem Psoas-Muskel gegen die Angst
Sibylle Wiemer arbeitet mit Reitschülern gern muskulär, um die Angst loszuwerden. Die zentrale Rolle spielt hierbei der Psoas-Muskel. Dieser setzt an der Innenseite vom Oberschenkel an und führt einmal zum Beckenkamm, einmal zur Lendenwirbelsäule. Er ist häufig verkürzt, da man heutzutage viel sitzt. Im Angstbereich ist er wichtig, da er sich in der typischen Kauerstellung kontrahiert, die Menschen ursprünglich bei Angst einnehmen möchten. Aufgrund uralter Reflexe springt er auch im Sattel an, wenn sich Menschen fürchten: Das erkennt man zum Beispiel daran, dass der Reiter dann die Knie hochzieht. „Ich übe mit den Reitschülern die Beine loszulassen und den Psoas-Muskel zu verlängern“, erklärt Sibylle Wiemer. Das muss bewusst aus der Hüfte heraus passieren. Eine einfache aber effektive Übung dafür ist es zum Beispiel, im Schrittrhythmus des Pferdes die Beine vor- und zurückschwingen zu lassen. „Das kann der Reiter noch besser umsetzen, wenn er eine Hand in die Leiste legt, um dort die Bewegung während des Schwingens zu spüren.“
2. Mit einer guten Haltung gegen die Angst
„Das zweite große Thema für Angstreiter ist der Zusammenhang zwischen Haltung und Emotion“, sagt Sibylle Wiemer. Wer aufrecht sitzt, ist weniger ängstlich, als jemand, der in sich zusammengefallen auf dem Pferd sitzt. Das verdeutlicht folgende Übung: „Ich bitte den Reiter, sich gebückt hinzusetzen und den Kopf hängenzulassen. In dieser Haltung soll er mit voller Inbrunst sagen. ‚Heute ist der glücklichste Tag meines Lebens!’“ Der Effekt: Die meisten lachen dann. „Haltung und Aussage decken sich nicht. Weil das nicht zusammen passt, rebelliert Körper und Geist“, sagt Sibylle Wiemer. „Es ist genauso schwer, stolz wie Kaiserin Sissy auf dem Pferd zu sitzen und auszusprechen: ‚Ich fürchte mich zu Tode’“. Dieses Experiment zeigt dem Angstreiter, wie stark Haltung und Emotion zusammenhängen. Durch ein Arbeiten an der Haltung kann somit die Emotion erreicht werden. Geführt oder an der Longe nutzt Sibylle Wiemer auch Körperreisen, um Angstreiter Vertrauen zu schaffen. „Das nennt sich bei uns Wohlfühlstunden und ist schon fast im therapeutischen Bereich angesiedelt“, erklärt die Ausbilderin. Eine ganz ähnliche Methodik nutzt auch die Reitpädagogin Nicole Holland-Nell um ängstlichen Kindern Vertrauen zu geben.
3. Mit Entspannungsreisen auf dem Pferd gegen die Angst
Wie muss man sich so eine Entspannungs- oder Körperreise vorstellen? Die Kinder werden geführt, je ein Kind auf einem Pony. Die Pädagogin erzählt dabei „zum Beispiel von den Regenbogenfarben, oder wie die Kinder durch den Regenbogen reiten und die Farben einatmen.“ Dem voraus geht häufig eine Phase über mehrere Wochen oder gar Monate, in denen ganz ängstliche Kinder gar nicht auf dem Pferderücken sitzen. Im Team Pony Concept wird mit acht Kindern und zwei Ponys gearbeitet, die Kinder sitzen abwechselnd einige Minuten auf den Ponys. Schwerpunkt sind Gruppenspiele rund um die Ponys. Ganz ängstliche Kinder werden erst mal in diesen Spielen wieder an das Pony herangeführt. Ganz ohne Reiten.
(Selbst)vertrauen zurückgewinnen
„Ich baue Sicherheit vom Boden auf, das Vertrauen zum Pferd soll erst mal hier wachsen, bevor das Kind es auf den Pferderücken übertragen kann“, erklärt Kolly Holland-Nell. Möchte ein Kind nicht reiten, „dann wird es auch nicht überredet“, erklärt sie. Sie erlebt solche Ängste bei Schülern meist nach negativen Erfahrungen. Immer wieder mal kommen Schüler zu ihr, die zuvor woanders etwas erlebt haben, das sie vorsichtig macht. „Bis die Angst vergessen ist, das dauert – durchaus mehr als ein halbes Jahr lang“, erzählt sie. Dieser Zeitfaktor, der sei ganz wichtig. Natürlich betrifft dies nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene!